11 Sekunden
Gerade einmal elf Sekunden, also etwa drei Atemzüge lang, verbringt ein durchschnittlicher Museumsgast vor einem Kunstwerk. Zu diesem Ergebnis kommt eine wissenschaftliche Studie der Universität Friedrichshafen von 2012. Und selbst wenn man davon ausgehen kann, dass sich echte Menschen dann doch nicht in die Durchschnittlichkeit einer statistischen Analyse zwängen lassen, läßt dieses Ergebnis nachdenklich werden. Also, alles andere als „langsame Bildbetrachtung“.
Denn in der Tat, wir sind schnell abgelenkt, haben oft die Vorstellung, auch bei einem Gang durch eine Ausstellung ein „Programm“ absolvieren zu müssen, bevor es dann zum nächsten Programmpunkt geht. Ein Museumsbesuch wird dann rasch zur Leistungsschau. Auf beiden Seiten. So viele Bilder, so wenig Zeit. Die Erhabenheit der stillen Bildbetrachtung, die Johann Joachim Winkelmann im 18. Jahrhundert auf die schöne Formel „edle Einfalt und stille Größe“ gebracht hat, ist damit dann wohl auf der Strecke geblieben. Irgendwie „Thema verfehlt“. Muss aber nicht sein.
Langsame Bildbetrachtung
Die Museumspädagogen haben sich dieser Aufgabe schon längst angenommen. Und so stellt zum Beispiel die Londoner Tate Modern mit der anstehenden Ausstellung (23. Januar bis 6. Mai 2019) des französischen Malers Pierre Bonnard auch ein entsprechendes Konzept zur Entschleunigung vor. „Slow Looking“. Es geht um die langsame Bildbetrachtung. Hier wird dann als Leihgabe übrigens auch ein großartiges Bild ausgestellt, das im Wuppertaler Von der Heydt-Museum zu Hause ist. „Das Esszimmer“ von 1925, ein echter Bonnard Klassiker mit allem, wofür dieser Maler steht.
Aber zurück zu „Slow Looking“. Was heißt das? Weniger Bilder, sehr entspannte Hängung, Führungen in kleinen Gruppen, die oft nur bei zwei oder drei Werken verweilen. Sogar eine Yin Yoga Stunde mit anschließender Bilderschau ist im Angebot. Ob mit oder ohne Yoga, es geht um Fokus und Konzentration, auf das bewußte Sich-einlassen auf ein Kunstwerk. Und da gibt es dann plötzlich ganz viel zu erforschen und entdecken, sehr viel mehr, als beim gehetzten „Kenn-ich-schon“-Blick und dem stürmischen „Alles-schon-gesehen“-Gang durch die Hallen, mit dem Audio Guide im Ohr und dem Kurzführer unter dem Arm. Abgehakt.
Geruhsam. Kann auch anstrengend sein.
Ich geb’s ja zu. Gerade die angesagten „Muss-man-unbedingt-gesehen-haben“ Blockbuster-Mega-Ausstellungen haben ihren Reiz. Und wenn Wien ein wenig mehr „um die Ecke“ liegen würde, wäre ich längst dabei gewesen. Die monumentale Pieter Bruegel Monoschau in Wien (gerade zuende gegangen) ist so eine einmalige Erfahrung. Sicher keine Übertreibung. Bei über 90 Arbeiten, darunter 28 Gemälden. Spannende Meisterwerke, die immer noch viele Rätsel aufgeben. Denn einfach ist bei Bruegel gar nichts. Und natürlich sind alle seine „Großen“ dabei. Alle! Eine große Verlockung, auch wenn die geruhsame Bildbetrachtung nicht zuletzt bei solchen Veranstaltungen schwer fällt. Große Kunst, viele Menschen, ein (zu) dichtes Programm, und das Bedürfnis, alles „mitzunehmen“, wenn man schon mal da ist. Auch wenn das gar nicht geht, und – ganz im Gegenteil – eher zur kompletten Reizüberflutung führt.
Langsame Bildbetrachtung. Eine BIlderreise im Sessel
Kurzum, keine Bildungsreise nach Wien für mich. Obwohl es für den begehrten „Kunstmoment“ wohl kaum etwas Wuchtigeres als das Original gibt. Gesamtbild, Licht, Farbigkeit, Struktur. Keine Wiedergabe hält dem Original stand. Ja, richtig. Aber dennoch….freue ich mich über einen großartigen Pieter Bruegel Bildband!
Mein Buch ist zwar kein „Garten, den man in der Tasche trägt“, wie das poetische und sehr zutreffende arabische Sprichwort sagt. Dazu ist mein neues Buch wirklich viel zu groß und zu schwergewichtig. Aber es entführt tatsächlich in eine faszinierende Welt. Sehr gute Abbildungen, viele Detailansichten, die quasi „in die Tiefe der Bilder“ führen.
So war ich die letzten Tage immer mal für längere Zeit auf dem Weg durch Bruegels Turmbau zu Babel, und zwar dem großen (Wiener) Bild, das „kleine“ steht auch noch an. Ein verschlungenes, kompliziertes Bauwerk mit ineinander geschachtelten Gängen , das nicht „aufgehen“ will, aber die Wolken bereits durchbricht. Unzählige Arbeiter werkeln an den unzähligen Orten dieser monumentalen Baustelle, rings um ein Gebirge, das der Turm schon fast eingeschlossen hat. Karren, Gerüste, komplizerte Maschinen, Kräne, Winden, Werkzeuge. Die großen Steinblöcke, die die Arbeiter im Vordergrund schlagen, werden zu Winzlingen, sobald sie sich in den Turm einfügen.
Langsame Bildbetrachtung. Bruegel zwischen zwei Buchdeckeln
Das Schöne an meinem Buch: neben dem Gesamtbild gibt es stets mehrere, sehr gut fotografierte Detailansichten, die deutlich machen, wie präzise und genau, wie detailbesessen Bruegel gearbeitet hat. Und ja, auch im Inneren des Turms, in der Dunkelheit der Bogengänge sind geschäftige Menschen zu erkennen. Je länger ich schaue, desto mehr entdecke ich. Bruegel ist tatsächlich ein Meister des Details. Es gibt Kunsthistoriker, die zählen tatsächlich erst mal die Anzahl der Figuren, um zum Beispiel Bruegels „Wimmelbilder“ in den Griff zu kriegen. Kann man machen, muss man aber nicht.
Interessanter ist aber die Frage, warum Bruegel die Welt genau so dargestellt hat. Und was seine Arbeit uns heute, fast 500 Jahre später, erzählen kann. Quasi als kollektives Bewußtsein und eine Lagerstätte der Menschheitsgeschichte. Ach so, digital geht die Bilderschau übrigens auch. Unter www.insidebruegel.com kann man die Wiener Bilder auch in allen Einzelheiten betrachten. Wie wäre es denn also mal mit einer digitalen Kunstreise? Und zwar ganz langsam. Viel Vergnügen!