Birgit Leßmanns „Farbenmeer“
Wie ein Meer fließt gerade eine ungeheure Fülle an Bildern durch unser Haus. Über sechzig höchst unterschiedliche Bilder hat Birgit Leßmann uns ins Haus gebracht. Abstrakte Arbeiten in den verschiedensten Farben und Formaten, von dunkel und farbstark bis hin zu pastellig zart und federleicht.
„Farbenmeer“ hat Birgit Leßmann ihre Ausstellung hier bei uns genannt. Und der Titel für diese umfangreiche Werkschau trifft es sehr gut. Denn die Künstlerin hat ein ganz feines Gespür für Farben. Sie erkundet ihre Wirkung an sich, in der Kombination und im Kontrast. Und in ihrer Aufteilung auf der Fläche.
Ihre Kunst ist abstrakt, wenngleich nicht völlig gegenstandslos. Beim Grad der Abstraktion gibt es durchaus Abstufungen. Birgit Leßmann bewegt sich in manchen ihrer Arbeiten durchaus auch in einer Zwischenwelt. Bei ihr gibt es durchaus Elemente, die in der Tendenz noch figurativ sind, oder zumindest Assoziationen an Gegenständliches auslösen können. Andere Arbeiten wirken ausschließlich über Farbe und Form.
Ganz abstrakt
Abstrakte Kunst, was ist das eigentlich genau? Ein ziemlich schillernder und gleichzeitig sperriger Begriff, der eine Vielzahl von höchst unterschiedlichen Ausdrucksformen von Gegenstandslosigkeit „unter einen Hut“ bringen will.
Die klassische Moderne wartet gleich mit einem ganzen Spektrum an wegweisenden Künstlerinnen und Künstlern auf, die sich von der Gegenständlichkeit und der mimetischen Abbildung von Wirklichkeit abwenden. Hilma af Klimt, mutmaßlich die „Urmutter“ der Abstraktion, Wassily Kandinsky. Robert Delaunay, Kasimir Malewitsch oder Piet Mondrian gehören in diese Liga der großen Pioniere abstrakter Kunst.
Von Wassily Kandinsky, der zu seiner abstrakten Kunst gleich eine ganze bahnbrechende Kunsttheorie entwickelt hat, erzählt man gern die Anekdote, dass er mehr oder weniger zufällig zu seiner abstrakten Malerei gefunden hatte. Eines Abends sah er in seinem Atelier auf ein Bild, das zur Seite gerutscht war. Er konnte die Konturen gar nicht mehr deutlich erkennen, sondern sah vielmehr nur verschwommene Formen und Farben, die im Dämmerlicht miteinander verschmolzen waren. Was er sah, begeisterte ihn. Es war ungewöhnlich, war von allem Gegenständlichen befreit und wirkte nur als eigentümlich leuchtende Ansammlung von Flecken und Feldern. Kandinsky kam zu dem Schluss, dass das Gegenständliche für seine Malerei eigentlich nur schädlich war. Und in aller Konsequenz, malte er fortan nur noch abstrakt. In seinem Manifest „Über das Geistige in der Kunst“ (1911) beschrieb er ausführlich, wie Formen und Farben ihr eigenes Wesen entfalten und seelische Empfindungen zum Ausdruck bringen.
Abstraktion als Experiment. Mit Farbe und Material
Genauso, wie man in der Dämmerung unscharfe Konturen wahrnimmt, oder wie die Umgebung verschwimmt, wenn man die Augen leicht zusammenkneift und der eigene Blick an Schärfe verliert, genauso kann man sich auch Birgit Leßmanns Arbeiten nähern. Denn das „Wesen“, die Wirkung von Farben, die von der Schwere des Gegenstandes befreit sind, das erforscht Birgit Leßmann. Und zwar auf höchst experimentelle Art und Weise. Die Künstlerin arbeitet mit den verschiedensten Mitteln, auf Leinwand oder Holz, teils kombiniert mit Collage Elementen.
Birgit Leßmanns Malerei lebt von der Fülle unterschiedlicher Farbarten und Materialien, die sich voneinander absetzen, aufeinanderstoßen, in Schichten übereinander liegen und miteinander verschmelzen, und so schließlich ein ausgewogenes Ganzes bilden. Sie streicht, spachtelt und wischt ihre Farben auf den Malgrund. Farbe wirkt bei ihr oft wie ein Block, eher flächig und massiv. Bisweilen ist es erst eine feine Linie darauf, die das Gesamtbild „in Bewegung“ setzt.
Acryl, Kreide, Spachtelmasse, Tusche, Schellack, oxidierende Metallgrundierungen, Pigmente oder Schlagmetall, bisweilen auch in Kombination mit Collage Elementen, lassen farbkräftige Werke entstehen, deren Lebendigkeit nicht zuletzt durch den Zufall entsteht. Der eigentliche Malprozess lässt sich nur bedingt steuern, sein Reiz liegt auch im Experiment. Form und Linie sind bei Birgit Leßmann stets auch als tatsächliches Material erkennbar, vielleicht als pastose Schicht, oder hauchzart wie eine Lasur, manchmal als staubiges reines Pigment. Der Malgrund, zumeist Leinwand oder Holz, blitzt bisweilen an den Rändern auf, oder schimmert fein unter den Farbschichten durch.
Farben, Formen und Chiffren
Birgit Leßmanns Arbeiten bilden nicht ab, sondern sie betonen vielmehr Farbe, Form und Struktur als eigenständige Realität.
Natur, Raum oder figurative Gegenstände bleiben, wenn überhaupt als solche erkennbar, weitgehend schemenhaft und reduziert, werden erst in der Bild Betrachtung re-konstruiert. Hier und da eingestreute Collage Teile, Textausschnitte einer Zeitung, vereinzelte Chiffren, Buchstaben oder Linien, die wie flüchtig hingekritzelte Schriftzeichen oder eine nachlässige Handschrift wirken. Versprengte Zeichen, Silben oder gar Worte „verrätseln“ den Bildeindruck. Bisweilen gibt es auch Textfetzen, die konkret „lesbare“ Objekte sind, und damit einen tatsächlich „sinntragenden“ Kontrast zu den gegenstandslosen Elementen in der Komposition bilden.
Es gibt gänzlich abstrakte Farbfelder ohne jegliche Perspektive, die sich teils überlappen oder an den Rändern fransig zerfließen, im Kontrast zu den feinen, hochdynamischen Linien oder lockeren Pinselschwüngen, gar Spiralen, die in diesen Bildern und auf dieser betonten Flächigkeit für die Spannung und eine Art von Raumwirkung sorgen, quasi als „Davor“ und „Dahinter“ oder „Darunter“ und „Darüber“.
Zum anderen gibt es aber auch angedeutete Räume, mit teils grotesk verlängerter Perspektive, die sich in der Bildtiefe verliert und an irgendeiner Stelle gänzlich aufzulösen scheint. Wie eine Art „Un-raum“ aus Licht und Schatten, vielleicht aus einem beunruhigenden Traum, der kaum sicheren Halt bietet.
„Ein bisschen wie das Cabinet des Dr Caligari“, beschreibt es unser Freund, der uns vor einigen Tagen spontan auf eine Tasse Kaffee besucht hat und ganz unversehens in den Genuss eines gewissermaßen höchst exklusiven „Sneak Preview“ kam. Denn die neuen Arbeiten hingen da gerade erst seit ein paar Stunden.
Nun, vielleicht sind Birgit Leßmanns angedeutete Räume nicht ganz so bedrohlich und verstörend wie das filmische Meisterwerk des Expressionismus, aber zumindest irritierend. Denn der verzerrte und irgendwie nur „angerissene“ Raum stellt den Standpunkt als Betrachter mit Nachdruck infrage.
Und Figuren?
Die gibt es durchaus. Da sind immer wieder Menschen in den Bildern. Aber sie bleiben auf Distanz, sind meist gesichtslos, schwarze Schemen und Schatten. Sie bewegen sich auf einem Umgrund, der bisweilen auch eine Landschaft sein könnte. Ohne jede Raumtiefe.
Als ungewöhnlich hohe und schmale Gestalten erinnern sie bisweilen ein wenig an Giacometti, oder die vielen Engel, die Birgit Leßmann – durchaus passend für diese Zeit im Jahr, aber dabei ganz und gar nicht nur „saisonal“ – als eine eigene kleine Reihe mitgebracht hat.
Was diese Figuren zu Engeln macht? Auch sie sind in der Darstellung abstrahiert, haben keine weiteren Attribute außer ihren mächtigen Flügeln und einer Aura um den Kopf. Strahlend, in Gold oder leuchtendem Gelb. Die einzelnen Engel füllen den Bildraum stets nahezu komplett aus, es gibt kaum einen Umraum. Sie „sind“ mit aller Konsequenz das Bild an sich. Sehr nachdrücklich und ohne jede Ablenkung. Die Künstlerin selbst sagt über diese Reihe: „Engel – Gedanken an Engel, Hoffnungen, die wir in sie setzen: Diese weiterzugeben, ist ein wertvolles Geschenk. Engel gelten als Beschützer auf unseren Wegen, als Boten, Retter und Begleiter der Menschen.“ Und das gilt sicher nicht nur für die Weihnachtszeit.
Einladung zum „Bilder Spaziergang“
Wenn eine Künstlerin oder ein neuer Künstler mit neuen Arbeiten in unser Haus eingezogen ist, macht es uns immer sehr viel Freude zu erkunden, wie sich das Haus „verwandelt“. Die ersten Tage mit den „Neuen“ ist immer auch eine Art „Bilder Spaziergang“ durch’s Haus, um sich einzugewöhnen.
Birgit Leßmanns Arbeiten sind offen, sie geben keine zwingende, letztgültige Interpretation vor. Und es macht tatsächlich Spaß, zu assoziieren. Viele Eindrücke zu sammeln. Wie wirkt ein Bild? Ruhig, gelassen und entspannt? Leicht und schwebend oder massiv, wie ein Block? Oder eher flimmernd und nervös? Geordnet und sortiert, oder vielmehr in Bewegung?
Und diese individuelle Bildbetrachtung ist eben immer sehr persönlich, unverwechselbar. Übrigens steht „Erkenne dich selbst“ in einer sehr leichten, pastellig hellen Arbeit. Als ein Textschnipsel in schwungvoller Schrift, tatsächlich hauchzart . Das ist wohl auch eine Aufforderung und Einladung. Viel Vergnügen!
„Farbenmeer“. Malerei von Birigt Leßmann. Ausstellung im Hotel Villa Meererbusch bis Frühjahr 2020.